Die Töchter der Sonne
© Barbara Naziri
Die Sonne hatte ihr strahlendes Gesicht seit Tagen hinter den Wolkenschafen verborgen und weinte. Unzählige Tränen tropften hinab auf die Erde.
Die Wolkenschafe wuchsen zu einer dichten Herde heran, welche die Welt verdunkelten und sie wie eine Glocke umschloss. Kein Lichtstrahl drang mehr auf die Erde. Die Blumen schlossen ihre Kelche und neigten traurig ihre Köpfchen, die Tiere verkrochen sich in ihren Höhlen, die Vögel verstummten und die Menschen verfielen in Traurigkeit. Ihnen allen fehlte die Sonne mit ihrem glänzenden Licht und die liebevolle Wärme, mit denen sie das Leben umarmte. Mutter Erde konnte die vielen Tränen nicht mehr aufnehmen und so schwollen die Flüsse an und überfluteten das Land. In ihrer Not wandten sich alle Lebewesen an den Gott der Liebe.
„Hilf uns“, baten sie, „denn wenn die Sonne weiterhin so traurig ihr Antlitz vor uns verbirgt, müssen wir verderben!“
Nachdem der Gott der Liebe diesen Hilferuf vernommen hatte, suchte er die Sonne auf. „Was ist dir, liebe Schwester? Warum verhüllst du dein Antlitz und weinst so verzweifelt, dass selbst das Leben auf der Erde ohne Hoffnung ist?“
„Ach lieber Bruder“, antwortete sie, „wenn der Morgen die Nacht verabschiedet und ich den neuen Tag begrüße, ist mir so traurig zumute. Natürlich freue ich mich über jede Blüte, die sich mir öffnet, umarme die Lebewesen und wärme die Frierenden. Ich betrachte mit Freude, wie neues Leben unter meiner Kraft gedeiht. Aber ich fühle mich so unendlich einsam. Mir fehlen die eigenen Kinder, denen ich meine Wärme und mein Licht geben kann.“
Nachdenklich betrachtete der Gott der Liebe seine Schwester. Dann lächelte er sanft.
„Ich habe da eine Idee. Folge mir, liebe Schwester, ich will dir etwas zeigen!“
Er brachte die Sonne zu einem dunklen Feld, auf dem nichts wuchs – da war nur braune nasse Erde. Dann öffnete er seine Hand und warf ein paar dunkle Kerne auf den Boden, der sie gierig verschlang. Die Sonne betrachtete sein Tun erstaunt.
„Pflege dieses Feld mit deinem Licht und deiner Wärme, liebe Schwester, dann wird dich deine Trauer verlassen und die Freude deinen Tag versüßen“, sprach er lächelnd.
So geschah es. Die Sonne kam wieder hervor, erst zaghaft, dann immer glänzender. Sie gab den Lebewesen Mut und Hoffnung. Unablässig beschien sie das dunkle Feld, und plötzlich schossen kleine Pflänzchen aus dem Boden. Als die Sonne sie gewahr wurde, lächelte sie erfreut und streichelte sie liebevoll mit ihren Strahlen. Die Pflänzchen aber gediehen unter der Obhut der Sonne und wurden groß und stark, ja sie wuchsen ihr meterhoch entgegen. Sie trieben Blüten, und als sie sich unter ihrem warmen Schein öffneten, küsste die Sonne jede einzelne von ihnen. Da bekamen sie ihr Gesicht. Sie sahen aus wie lauter kleine Sonnen, und die Sonne strahlte vor Freude über ihre Töchter. Sobald sie am Morgen aufging, öffneten die Töchter ihre Blüten und reckten sich ihr in einem leuchtenden Gelb entgegen. Sie ließen ihre Mutter, die Sonne, nicht aus den Augen und drehten sich mit ihrem Lauf am Firmament bis sie sich zur Ruhe begab.
Darum gaben ihnen die Menschen den Namen Sonnenblume.