Die Abenteuer des Osterhasen-Felix

 

 

LESEPROBE

 

Die Abenteuer des Osterhasen-Felix 
© Barbara Naziri

 

 I. Felix bei der Wurzelmarie 


Im dunklen Tann lebte die Wurzelmarie. Sie war ein altes Weiblein, gut in der Pflanzen- und Heilkunde bewandert und beherrschte zudem eine besondere Kunstfertigkeit. Alle Osterhasenkinder gingen bei ihr in die Lehre, denn mit ihrem Malerpinsel zauberte sie die schönsten Muster auf die Eier. Manche Hasenkinder fürchteten den Weg zu ihr, hieß es für sie doch, langen Abschied von den Eltern zu nehmen. Doch gab es auch andere, die es kaum erwarten konnten, hinaus in die weite Welt zu ziehen. 

Felix war einer von den Hasenjungen, die ungeduldig der Lehrzeit entgegen sahen. Zum Herbstanfang sollte sie beginnen und den ganzen Winter über dauern, bis der Frühling erwachte. Als seine Abreise nahte, war ihm doch ein wenig mulmig zumute. Seine Mutter weinte ein paar Tränen in ihr Kohlblatttaschentuch und band ihm ein weißes Halstuch um, auf das sie rote Rübchen gestickt hatte, seine Lieblingsspeise. „Damit Du immer an mich denkst“, flüsterte sie ihm in die schönen langen Ohren und wollte ihn am liebsten gar nicht mehr loslassen. Und sein Vater nahm das Pfeiflein aus dem Mund, streichelte ihn liebevoll und murmelte: „Mach es gut, Söhnchen, und lerne fleißig.“ Dabei zitterte seine sonst so ruhige Stimme. Nun verdrückte auch Felix ein paar Tränen, denn ein halbes Jahr in der Fremde war auch für ein Hasenkind eine lange Zeit. Doch dann überwand seine Abenteuerlust den Abschiedsschmerz. Wenn er zurückkehrte, war er ein echter Osterhase. Vergnügt schulterte er sein Bündel und machte sich auf zur Wurzelmarie. Der Herbst hatte das Laub der Bäume in bunte Farben getaucht und die gelbblassen Felder von Tiefland lagen verlassen vor ihm. Bald erreichte er den Tann, den nie ein Mensch betrat. Dicht standen die Bäume hier beieinander und die Wege konnten nur die Tiere finden. Als Felix sich auf schmalen Pfaden durch das Dickicht kämpfte, fuhr der Wind in die Tannenspitzen und wiegte die Bäume hin und her, so als wollte er sie zum Tanzen bringen. Lachend pfiff er Felix um die Ohren und rief ihm zu: „Lauf, kleiner Hase, bald naht die Nacht! Ich blase Dich voran und halte bei Dir Wacht!“

Mit dem Wind im Rücken kam Felix schneller voran. Immer tiefer drang er in den Tann, bis sich die Dunkelheit wie ein dickes Tuch darüber senkte. Die Vögel schliefen längst in den Zweigen, da glühten zwei Augen in der Finsternis auf. 


„Schuhu! Schuhu! Wohin des Weges, Hasenkind?“ Erschrocken wandte Felix sich um. „Guten Abend, Herr Uhu, Du hast mich aber erschreckt. Ich will zur Wurzelmarie, um das Eiermalen zu erlernen.“

„Schuhu. Nur zu. Der Weg ist weit, ich flieg Dir voran in der Dunkelheit!“ Der Vogel der Nacht öffnete seine breiten Schwingen und flog voraus. Mit dem Rückenwind und dem Uhu vorweg fühlte Felix sich in bester Gesellschaft. Doch der Weg schien nicht enden zu wollen und seine Füße wurden immer müder. Als er schon glaubte, auf dem kalten Waldboden schlafen zu müssen, sah er in der Ferne ein Licht schimmern. Sofort stolperte Felix darauf zu. An eine hohe Tanne, deren Zweige bis auf den Boden reichten, schmiegte sich ein Holzhaus, aus dessen Fenster warmer Lichtschein drang. Draußen bemühte sich ein uraltes Mütterlein, den Fensterladen zu schließen, den der Wind immer wieder hin und her klappern ließ.

„Guten Abend, Wurzelmarie. Ich bin der Felix!“, begrüßte er sie schüchtern.

Das Mütterlein, gebeugt durch viele Jahre und in ein graues Tuch gehüllt, drehte sich zu ihm um und musterte ihn mit klugen Augen. „So, so, der Felix“, lächelte es. „Ich habe Dich bereits erwartet. Doch bevor wir ins Haus gehen, bitte ich Dich um Deine Hilfe. Ein Brett vom Fensterladen hat sich gelöst. Das muss angenagelt werden, sonst wird es kalt in der Hütte. Hier halte mal.“

Felix pustete in seine kalten Pfötchen und hielt den Nagel, während die Wurzelmarie den Hammer schwang. „Und nun komm herein“, lud sie ihn ein. „Du bist ja ganz verkühlt.“

Im Hause der Wurzelmarie war es längst nicht so fein wie in seinem Elternhaus. Aber drinnen stand ein riesiger Herd, in dem ein lustiges Feuer brannte. Darauf brodelte es in vielen Töpfen und Krügen, denn die Wurzelmarie war eine weise Frau, die nicht nur gut malen konnte, sondern auch manchen Trank aus Wurzeln und Kräutern braute, um Krankheiten zu vertreiben oder ein Wehwehchen zu lindern. In einigen Tiegeln kochte sie Farben, die sie aus Blumen und Pflanzen gewann, die sie selbst sammelte oder ihr die Zwerge brachten. Ein sattes Gelb bekam sie aus Kamilleblüten und Apfelbaumblättern und ein kräftiges Rot aus Malven oder roter Beete. Um ein strahlendes Blau zu gewinnen, sammelte sie Heidelbeeren, die auch die Münder von Schleckermäulern bläulich färben. Die Schalen der Walnuss ergaben ein tiefes Braun und färbten sogar die Haut für lange Zeit, wenn man nicht aufpasste. Auf einem Wandbrett neben dem Herd standen Tontöpfe mit den verschiedensten Marmeladen aus wohlschmeckenden Früchten und Honigsorten, die ihr die Bienen herbei schafften.

„Setz Dich an den Ofen und wärme Dich, Felix. Ich schmiere Dir derweil ein Honigbrot.“ Und sie nahm eine ordentliche Portion von der goldgelben Flüssigkeit und schmierte sie auf eine dicke Scheibe Weißbrot. Oh, wie köstlich das schmeckte! Im Nullkommanix hatte Felix das Brot verputzt. Inzwischen bereitete die Wurzelmarie ihm auf der Ofenbank ein Lager. 

„So, nun schlaf erst einmal. Du musst vom langen Weg recht müde sein. Morgen beginnen wir mit dem Unterricht. Dann wirst Du auch die Zwerge kennenlernen.“

„Die Zwerge?“, murmelte Felix und spürte, wie sich der Schlaf auf seine Augen legte. 

„Aber natürlich. Hier im Wald helfen wir uns alle gegenseitig“, hörte er in weiter Ferne die Wurzelmarie sagen. Dann schlief er fest ein.

Am nächsten Morgen wurde er durch einen fröhlichen Singsang geweckt. Als er sich den Schlafsand aus den Augen rieb, sah er um den großen Küchentisch eine Gruppe von Zwergen sitzen, die vergnügt in Farbtiegeln rührten. Dazu sangen sie: 

Wir sind die Zwerge – Hei-ho,
und schlafen nachts nur auf Stroh,
 der Gänsewein hält uns gesund

und ein Laib Brot macht kugelrund. 
Hei-ho, Hei-ho,
wir sind vergnügt und froh,
wir mischen Farben kunterbunt,
für schöne Eier prall und rund.
Hei-ho, Hei-ho …“ 


„Guten Morgen, du Langschläfer!“, riefen sie vergnügt. „Früher Vogel fängt den Wurm.“

Felix blickte verlegen, weil er verschlafen hatte, aber die Wurzelmarie stellte ihm rasch ein Schälchen Milch hin und holte aus dem Ofen ein frisches Brot. Darauf strich sie duftende Waldbeerenmarmelade, und Felix biss herzhaft hinein. 

Jetzt begann sein Unterricht. Als erstes lernte er, die Eier so zu greifen, dass sie nicht zerbrachen. Das war gar nicht so einfach und unter dem Gelächter der Zwerge ging manches Ei zu Bruch. Felix schämte sich ein wenig für seine Ungeschicktheit, doch die Wurzelmarie schimpfte nie mit ihm und ermunterte ihn, fleißig weiter zu üben. Es dauerte viele Tage, bis er die Eier sicher halten konnte. Es folgte die Lektion für das Färbebad der Eier. Das fand Felix einfach und bald durfte er die schwierigste Lektion erlernen, das Musterzeichnen und Verzieren. Lange Zeit dauert es, bis er den Pinsel so führen konnte, dass ihm die Pfote nicht zitterte. Außerdem gab es so viele Muster, dass ihm ganz schwindelig wurde. Wenn er nachts auf der Ofenbank lag, fiel er erschöpft in einen tiefen Schlaf. In seinen Träumen tanzten die Muster alle durcheinander um ihn herum, bis ihm ganz schwindelig wurde. Die Übungen dauerten Wochen und es war keine leichte Zeit. ’Lehrzeit ist keine Herrenzeit’, hatte ihm der Vater noch zum Abschied zugeflüstert. Wie Recht er hatte! So übte Felix unbeirrt Tag für Tag weiter, bis er nahezu alle Muster vollkommen beherrschte. Manchmal saß er noch bis tief in die Nacht, um sich ein neues Muster auszudenken. Einige Eier verzierte er mit Filzresten und trockenen Blumen und zeigte sie am Morgen freudig der Wurzelmarie. Diese schmunzelte in sich hinein und stellte ihm manche Leckerei hin, um ihm die Arbeit zu versüßen. Sie war stolz auf ihren fleißigen Schüler. 

Bald herrschte tiefer Winter. Draußen schneite es dicke Flocken und die Kälte kam durch die Ritzen gekrochen. Väterchen Frost saß auf dem Dach und schmückte die Tannennadeln mit Eiskristallen, die wie gefrorene Tränen aussahen. Die Zwerge kamen nun weniger zu Besuch, denn alle Farben waren gemischt und warteten darauf, auf die Eier gepinselt zu werden. Doch dafür war es noch zu früh. Als sie sich verabschiedeten, riefen sie der Wurzelmarie und Felix fröhlich zu: „Wir sehen uns wieder, wenn der Frühling geweckt wird!“



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Barbara Naziri
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