Engel mit einem Flügel

Engel mit einem Flügel
© Barbara Naziri

Die Sonne versank am Horizont. Kühl umarmte die Nacht das Ödland, das noch immer wie im Fieber glühte. Da klang es wie ein Seufzen. Die Wüste hauchte die Hitze des Tages aus. Augenblicklich schwebten zarte Schleier über ihr. Als sie sich lösten, trat der Mond hervor. Sein Schein glitt über die Sandkristalle, die zu glitzern begannen, als wollten sie es den Abertausenden Sternen gleichtun. Plötzlich tauchte ein fremder Stern am Himmel auf. Er funkelte in einer Reinheit, die alle übrigen Sterne überstrahlte. So wanderte er durch den Sternengarten, verhielt hie und da, begrüßte einen jeden Stern und schien etwas zu suchen. Ihm folgten wie ein Schweif Hunderte von winzigen Sternchen, die wie Diamanten schimmerten. Direkt über der Wüste verhielt er in seinem Lauf und sein Leuchten drang weit über die Grenzen der Öde hinaus. Er hatte seinen Platz gefunden.

Sein Glanz führte zwei Engel zusammen, die sich in der weiten Ebene verirrt hatten. Als sie einander gewahr wurden, eilten sie aufeinander zu. Hätten sie fliegen können, so wäre ihnen der beschwerliche Weg in der Einsamkeit erspart geblieben. Aber jeder von ihnen hatte nur einen Flügel. Seit dem Verlust ihres Flügels waren sie auf Wanderschaft, auf der Suche nach der Wahrheit. Schweigend standen sie einander gegenüber und blickten sich in die Augen. In ihrem Blick lag Vertrauen und eine stille Freude, einander gefunden zu haben. Doch in der Tiefe ihrer Augen lag unter der Hoffnung die Trauer begraben, die sie um den Verlust ihrer Flügel litten.

„Sei gegrüßt, Engel der Nacht! Mein Name ist Be“, sagte der Engel, der aus dem Norden kam.
Er war kräftig und von hoher Statur. Gekleidet war er in ein weißes Gewand, in das eine goldene Sonne gestickt war. Sein Haar schimmerte hell im Mondlicht, als würde die Sonne selbst aus ihm strahlen und seine Augen waren klar wie Bergkristall. „Ich flog einst mit den wilden Schwänen, begleitete die Rentiere auf ihren Wanderungen und war zu Gast bei den Menschen am Rande der Welt, die im ewigen Eis leben und selbst ihre Häuser aus Eis bauen. Doch das Eis schmolz. Ich sah, wie sich das Meer blutrot färbte, als der Gesang der Wale verstummte, und hielt den sterbenden Eisbären in meinen Armen.“

„Friede sei mit Dir, Engel des Lichts. Ich heiße Lie und komme aus dem Süden“, erwiderte der zweite Engel, dessen Haar schwarz wie die Nacht war und dennoch glänzte, als lugten daraus unzählige Sterne hervor. Sein Gewand war dunkelrot und über der Brust mit einem silbernen Mond bestickt. Von Statur war er klein und zart. Seine Augen glichen schwarzen Perlen. „Ich flog mit dem Samum und begleitete die Karawanen auf ihrem beschwerlichen Wege durch Wüsten und Steppen. Ich tröstete den müden Esel, der unter seiner Last zusammenbrach und nicht mehr aufstehen wollte. Bei den Nomaden verweilte ich und lauschte ihren Erzählungen. Dann bedeckte der Wüstensand ihre Zelte und die Geschichten verstummten. Ich sah blühende Gärten verdorren, Oasen versanden, als das Wasser versiegte. Ich hörte das Vieh vor Durst schreien und traf auf hungernde Kinder mit großen fragenden Augen, die Erde aßen.“

„Die Welt dreht sich weiter, aber das Leben verliert seinen Wert“, entgegnete Be traurig. „Im Norden herrscht Eiszeit, obwohl die Luft sich ständig erwärmt, nicht aber die Herzen der Menschen. ...

Wer wissen möchte, wie es weitergeht, erfährt es im

MÄRCHENSPIEGEL DER ARAMESH
Barbara Naziri
Illustratoren: Mario Herla (GreybearMH) u. Hokuspokus
Wien: Karina-Verlag 2017, 316 S.
ISBN-10: 396111935X
ISBN-13: 978-3961119356

€ 22,90
 

 

 

 

 

 

 

 

 


 

 

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