Erzähle mir von Weihnachten

Erzähle mir von Weihnachten

 

 

 

„Was heißt das eigentlich: Heiligabend überall?“, fragte Ali, der Barbier, als er den Geschichtenerzähler Djafar den Schädel rasierte. „Der christliche Zuckerbäcker behauptet das zumindest.“
„Oh, davon habe ich gehört. Alle Jahre wieder feiern die Christen Heiligabend, die Geburt ihres Messias, den sie Gottes Sohn heißen und den wir Isa, den Propheten, nennen.“
„Gottes Sohn? Wie kann Gott einen Sohn haben?“
„Frage mich nicht. Wir leben in einer Welt der Wunder und der Geschichten. Sind wir nicht alle seine Kinder?“
„Nun das will ich nicht bestreiten, Djafar. Du bist viel in unserer Heimat herumgewandert, hast bei den Nomaden am Feuer gesessen, in Isfahan am Bild der Welt geweilt und sogar am Grabe des großen Dichters Hafez zitiert. Weißt Du mehr über dieses Fest zu berichten?“
„Vier Wochen vor der Geburt Isas erzählen sich die Christen Weihnachtsgeschichten. Manchmal werden auch Weihnachtsgedichte vorgetragen, meist von Kindern. Gefeiert wird am Heiligabend, kurz nach der längsten Nacht, der Einläutung des Winters, den
wir jedes Jahr mit einem Fest begrüßen.“
„Moment, Moment. Wie meinst du das?
Sie feiern Isas Geburt im Winter? Aber er ist doch im Monat Chordad, kurz vor dem Hochsommer geboren!"

"Nun, lass uns darüber jetzt nicht streiten. Also, sie erzählen sich Weihnachtsgeschichten. Märchen, die sie zu Tränen rühren und die von Menschenliebe und froher Erwartung berichten."
Oh, Djafar, das gefällt mir! Ich bin auch immer in froher Erwartung, wenn ich dich im Basar sitzen sehe und du deine Märchen erzählst."

"Die Christen erzählen ihre Weihnachtsgeschichten eher zu Hause, wenn es draußen schneit und der Frost an den Scheiben kratzt. Sie zünden Kerzen an, um die Schatten der Nacht zu vertreiben. Ja, selbst ihre Herzen leuchten in dieser Zeit. Sie sitzen beisammen und basteln Adventskalender zum Lesen und Vorlesen. Adventskalender haben 24 Türchen, die letzten 24 Tage vor dem Heiligabend symbolisieren. Jeden Tag wird ein Türchen geöffnet, das die Erwartung versüßen soll, denn dahinter verbirgt sich ein Stück Schokolade oder ein buntes Bild. Dies soll den Kindern die Freude auf Weihnachten versüßen."

"Das ist aber ein schöner Brauch. Da wäre ich gern dabei."

"Wichtig ist der Rotgewandete, den sie Weihnachtsmann nennen. Er ähnelt unserem Hadji Firouz und trägt ebenfalls einen großen Sack."

"Wie? Ihr Hadji Firouz kommt im Winter? Bei uns läutet er doch das Neue Jahr ein und somit den Frühling!"

"Nein, nein. Er ist ein Wintermann. Auch hüpft er nicht fröhlich umher wie Hadji Firouz und treibt keinen Schabernack, sondern er ist ein alter würdiger Mann. In seinem Sack sind Geschenke für die Kinder, Spielzeug und so, manchmal auch eine Rute."

"Aha. Und wofür dient die Rute?"

"Nun, damit werden Max und Mäxchen bedroht, wenn sie unartig waren."

"Max und Mäxchen werden von dem Weihnachtsmann bedroht?"

"Doch nur im Spaß. Du weißt doch, wie Hadji Firouz es macht, wenn er den Leuten die Ohren lang zieht."

"Ach so! Und dann?""

"Der Weihnachtsmann hat einen großen Schlitten, der von Rentieren gezogen wird."

"Was sind denn Rentiere?"

"Das sind die Hirsche des Nordens. Sie sind gewaltig, viel größer und stärker als unsere Gazellen und haben ein Winterfell. Manchmal reitet der Alte mit dem Weihnachtswind und bringt zugleich den Schnee."

"Ach, Djafar, Schnee hätte ich auch gern einmal erlebt. Hier gibt es ihn nur hoch in den Bergen."

"Ja, Ali, die Füße der Sterne können da oben schon kalt werden. Höre weiter. Es gibt auch einen Weihnachtsbaum, einen Nadelbaum, der fast in jeder Wohnung steht. Die Christen schmücken ihn mit bunten Kugeln und befestigen Kerzen daran, die sie am Abend der Geburt Isas anzünden. Auf der Spitze thront oft ein Engel."

"Oh, wie schön! Was denkst Du, wäre das nicht eine famose Idee, wenn ich hier so einen Baum aufstellen würde?"

"Das wird schwierig, lieber Ali, hier gibt es doch keine Nadelbäume. Eher kannst Du hundert haarige Limericks dichten, bevor du hier in der Stadt einen einzigen Nadelbaum auftreibst."

"Djafar?"

"Ja, Ali?"

"Kannst Du mir noch einmal die Reise vom gläsernen Baum zum blauen Planeten erzählen? Das war ein Märchen aus dem Norden und hat mir gut gefallen?"

"Nicht heute. Die Geschichte ist zu lang!"

"Oder Spieglein, Spieglein an der Wand?"

"Also Spiegel hast Du genug hier. Ach, nein!"

"Dann erzähl mir was von Afrika! Die Welt ist so bunt."

"Ach, Ali. Diese Geschichte erzähle ich morgen im Basar."

"Das freut mich, Djafar. Die Zeiten werden durch Deine Märchen bunter und fröhlicher, denn erst gestern wieder gab es einen Einbruch ins verschlossene Kurdistan."

"Ja, davon habe ich gehört. Es haben sich schreckliche Dinge abgespielt."

"Oh, schweig still. Der Füllfederhalter schreibt dort Geschichte und bald gerät alles außer Kontrolle. Vielleicht sollten wir mit den Christen mal Weihnachten feiern. Ich denke, plötzlich sieht die Welt ganz anders aus, wenn wir uns die Hände reichen. So unterschiedlich sind wir gar nicht."

"Gesicht und Persönlichkeitseindruck sind oft zwei Paar Schuhe. Wäre es nicht wunderbar, wenn wir alle die Mauer zwischen uns niederreißen und die Mauerstücke zur Warnung aufbewahren würden, damit sie nicht wieder wächst. Gottes kalte Gabe ruht schon zu lange auf unseren Gemütern. Werfen wir sie ab und suchen nach dem Licht."

Djafar blickte Ali spitzbübisch an. "Was meinst du, könnte dieses Abenteuer im Friseursalon nicht gerade jetzt und heute beginnen?"

Ja, und plötzlich sah die Welt ganz anders aus.

 


 

 

 

 

 

 

Nach oben