Brücken bauen oder Was uns verbindet

Was uns verbindet – oder – Brücken bauen…

Ein Rückblick auf die Schullesung vom 13.11.2019

© Barbara Naziri

 

Kürzlich hatte ich mit Granatapfelkerne (Fluchtgeschichte eines Kindes) eine Lesung in der 6. Klasse einer Stadtteilschule in Hamburg. Eine Mischung aus Selbsterlebtem und Erfahrenem.

Susan, eine befreundete Lehrerin, holte mich ab, um mit mir noch ein paar Einzelheiten zu besprechen.

„Die Klasse, in der Du lesen wirst, ist nicht einfach“, sagte sie abwägend. „Ich hoffe, Du kannst damit umgehen.“

Ich lachte: „Im Herzen bin ich doch selber noch Kind und Du und die Klassenlehrerin seid ja auch während meiner Lesung da.“ Ein bisschen mulmig war mir allerdings schon, aber die Neugier siegte, denn tags zuvor hatte ich in einem anderen Hamburger Stadtteil einen Schreibworkshop gegeben und eine Menge dabei gelernt. Mit Kindern zu arbeiten erscheint mir als die anspruchsvollste Aufgabe – auch als Künstlerin. Aus dem Workshop hatte ich sehr viel mitgenommen, die Sorgen der Kinder, ihre kleinen Geheimnisse und Schmerzen, wie sie ihre Stellung in der Gesellschaft sahen und besonders der kleine Nick (ihm habe ich eine Kurzgeschichte gewidmet), der sich dort aus seinem Kokon als Förderkind gelöst hatte und plötzlich wie ein kleiner bunter Schmetterling im Rampenlicht stand, war für mich ein Schlüsselerlebnis und hat mein Herz zutiefst berührt.

Ich sagte zu Susan: „Ich habe nicht vor, die ganze Zeit zu lesen, sondern ich möchte, dass die Kinder zu Wort kommen, denn das Buch ist ja eine Botschaft an sie, die besprochen werden muss.“

Susan nickte. „Das klingt gut!“

Die Klassenlehrerin kam mir entgegen und begrüßte mich sehr herzlich. Auch sie wies mich darauf hin, dass es wohl nicht so einfach sein würde, die Aufmerksamkeit der Klasse zu halten. Mein Vorschlag, wie ich die Lesung gestalten wollte, gefiel auch ihr. Ich war fest entschlossen, mir ein eigenes Bild zu machen.

Vor dem verschlossenen Klassenzimmer wartete schon eine vergnügte Horde auf uns. Es wurde getobt, geschrien und geschubst und auch ich bekam ein paar Knuffer ab. Ein orientalisch aussehender kräftiger Junge, der mich aus den Augenwinkeln musterte, fiel mir dabei besonders auf. Obwohl er gern vorn bei mir gesessen hätte, verbot es ihm die Lehrerin – sicherlich nicht unbegründet. Doch fand ich es irgendwie schade. Während der Lesung starrte er mich trotzig von seinem unfreiwilligen Verbannungsort an.

Nachdem sich alle Kinder gesetzt hatten, hießen sie mich im Chor willkommen. Ich blickte in die Runde. Bestimmt die Hälfte der Kinder hatte einen Migrationshintergrund. Das freute mich sehr. Ich erwiderte die fröhliche Begrüßung, stellte mich vor und machte sie mit dem Inhalt des Buches vertraut. Mein Buch beginnt mit einem Vorwort, nur an die Kinder gerichtet, das ich bisher in keiner Schullesung vorgetragen habe. Doch hier passte es irgendwie und das sagte ich den Kindern auch. Während ich vorlas, war es mucksmäuschenstill.

Daraufhin las ich stets kurze Passagen aus meinem Buch, um eigene Erfahrungen einfließen zu lassen. So konnten auch die Kinder nachfragen und ihre eigene Gedanken und Gefühle beitragen. Dadurch entwickelte sich bald eine lebendige Diskussion und die Kinder verloren immer mehr ihre Scheu. Direkt vor mir saß Amir, ein syrischer Junge mit dunklen ausdrucksvollen Augen. Er lauschte aufmerksam, als ich zu den Erlebnissen der kleinen Mina während ihrer Flucht kam. Daraufhin meldete er sich.

„All das“, sagte er zu mir, „habe ich auch erlebt. Mein Vater war überhaupt nicht damit einverstanden, was in Syrien passierte. Darum haben sie ihn ein paarmal verhaftet. Jedes Mal, wenn es an der Tür klopfte, hatten wir schreckliche Angst, sie würden ihn wieder holen. Ach, die Angst war immer da. Und dann der Krieg. So viele tote Menschen. Wir haben unser Zuhause verloren.“

In dem Buch gibt es auch eine Passage, wo die Familie sich von den Großeltern trennen muss, die allein im Iran zurückbleiben. Da gab es viele Fragen und ich sah in den Augen mancher Kinder Tränen. So entspann sich eine rege Diskussion um das Warum und das Wieso. Amir ergriff wieder das Wort: „Meine Großeltern wollten auch nicht mitkommen. Darüber waren wir alle sehr traurig. Sie hoffen, dass wir eines Tages zurückkommen.“ Und als ich die Flucht im Bus beschrieb, meinte er: „Genau das haben wir auch erlebt, dass immer wieder Soldaten den Bus anhielten und Leute herauszogen, die nicht zurückkamen.“

Der Junge auf dem hintersten Platz äußerte sich nicht. Da fragte ich ihn direkt: „Und woher kommst Du?“

„Ich bin Syrer!“ antwortete er kurz und fügte dann schnell hinzu: „Kurde!“

„Oh, wie schön“, antwortete ich. „Ich mag die Kurden. Sie sind ein mutiges Volk.“

Da sah ich ihn das erste Mal lächeln.

Als ich auf die Schule im Iran zu sprechen kam und dass die Mädchen sich auf Anordnung des Mullahregimes verhüllen mussten, riefen einige deutschstämmige Mädchen: „Das würden wir uns nie gefallen lassen!“ und waren entrüstet, als sie hörten, dass man sie da gar nicht fragen würde und das sogar eine Strafe nach sich zöge. Samira, ein afghanisches Mädchen meldete sich: „Meine Eltern sind nur wegen mir aus Afghanistan geflohen. Mädchen haben da überhaupt keine Chance. Sie dürfen kaum in die Schule gehen. Wir haben da die Taliban. Das sind ganz schreckliche Menschen. Die töten alle, die nicht das tun, was sie wollen.“

Da meldete sich Amir: „Bei uns in Syrien gibt es auch so furchtbare Männer. Sie sind ganz schwarz angezogen und haben schwarze Fahnen. Die bringen sogar Kinder um.“ Damit meinte er augenscheinlich den IS.

Monika und Helen, die hinter ihm saßen, waren entsetzt. „Das hast Du uns nie erzählt! Das ist ja schrecklich!“

„Aber es gibt auch gute Moslems“, rief Amir.

„Natürlich“, stimmte ich ihm zu, „IS und Taliban missbrauchen die Religion. Das sind einfach nur Verbrecher.“

Samira meldete sich wieder: „Ich bin glücklich, dass ich hier bin. Ich gehe morgens ohne Angst aus dem Haus und ich brauche mich nicht zu verhüllen. Mein Traum ist es, Ärztin zu werden. Irgendwie den Menschen helfen.“ Und dann nach einer kurzen Pause. „Meine Eltern sprechen zu Hause kaum noch Farsi mit mir.“

„Wieso das denn?“ fragte ich sie.

„Sie wollen, dass ich gut Deutsch lerne. Sagen Sie doch mal was auf Persisch und ich übersetze.“

Das tat ich gern.

Als dann die Sprache auf die Ausländerbehörde kam, die auch in meinem Buch beschrieben ist, brach es aus vielen Migrantenkindern heraus, dass sie sich davor fürchteten. Man musste schon ganz früh morgens in der Kälte stehen, um überhaupt eine Nummer zu bekommen und dort seien die Leute überhaupt nicht nett, hieß es allgemein.

So ging es anderthalb Stunden recht lebhaft zu. Die Kinder waren aus den unterschiedlichsten Kulturen, also aus dem Nahen und Mittleren Osten und aus Afrika, überall dort, wo Kriege oder Willkür und Gewalt herrschten. Bei den deutschstämmigen Kindern lösten Buch und Diskussion einiges aus. Was wir bedenken sollten, ist, dass Flüchtlingskinder kaum ihre Erfahrungen einfach so berichten. Was sich in dieser Lesung offenbarte, hat viele erschrocken und berührt. Das müssen wir ernst nehmen. Ich denke, auch wenn ich als Einzelne nur eine kleine Brücke bauen kann, so wäre das schon ein Anreiz für andere, dafür zu sorgen, die Pfeiler zu festigen, denn alles beginnt mit den Kindern, ob nun diejenigen, die solche Bürde schon in jungen Jahren mit sich tragen oder denen solche Schicksalsschläge in unserer Gesellschaft nicht vermittelt werden.

Am Ende der Lesung kamen einige Kinder zu mir, um mit ihren Handys das Buch zu fotografieren, weil sie es sich unbedingt wünschten. Das hat mich sehr berührt. Als ich mich verabschiedete riefen sie mir zu: „Kommst Du bald wieder zu uns?“ „Ja“, sagte ich, „das würde ich herzlich gerne tun.“ Der Junge in der letzten Reihe lächelte.

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