Das andere Ufer

 

Das andere Ufer
© Barbara Naziri


Jäh endete die asphaltierte Landstraße. Über holperiges Pflaster ging es hinab ins Dorf. Wir Kinder lachten vergnügt, als wir heftig durchgeschüttelt wurden, während mein sonst so ruhiger Papa wie ein Rohrspatz schimpfte: „Oh, meine armen Stoßdämpfer! Mein schöner Wagen!“ Nun ging es im Schritttempo weiter. Der lichte Wald wich blühenden Kirschbäumen. Dicht säumten sie den Weg und ihre weißen Kronen schienen im Maiwind zu tanzen. Übermütig strich der Wind durch ihre Blütenpracht, griff sich eine Handvoll und ließ sie sacht über uns nieder rieseln, als wolle er uns begrüßen. Unsere Umgebung glich einer Märchenwelt und ließ uns staunend verstummen. Mein Vater hielt an. „Steigt aus! Lasst uns zu Fuß weitergehen und die wunderbare Landschaft genießen!“ Ein bisschen dachte er wohl auch an seinen Wagen.

Ein zarter Duft nach Raps und Honig, der von den Feldern herüberschwebte, betörte unsere Sinne, während wir unter den Kirschbäumen entlang wanderten. Aus dem Gezweig erklang ein fröhliches Konzert. Die nimmermüden Bienen sirrten emsig von Blüte zu Blüte. Ihr Summen untermalte das melodische Gezwitscher der bunten Vogelschar, die halb verborgen unter dem Blütenmantel musizierte. Für mich klang es wie ein vergnügter Wettstreit, in dem jeder der kleinen Sänger den anderen zu überstimmen suchte. Der Wind fuhr durch die Blüten, welche wie Schneeflocken auf mich herabrieselten, während Schmetterlinge darunter behände hindurch schwebten. Plötzlich erklang lautes Klappern, als schlage jemand zwei Hölzer gegeneinander. Auf dem Dachfirst einer großen Scheune gewahrte ich ein nistendes Storchenpaar, das heftig mit den Schnäbeln klapperte und sich ehrerbietig voreinander verneigte. Entzückt griff ich nach der Hand meines Vaters, der den Druck sanft erwiderte. Wir waren angekommen. An diesem heiteren Frühlingstag kaufte mein Vater das alte Bauernhaus. Das sanfte Wendland hatte uns verzaubert. 

Von nun an verbrachten wir hier unsere Wochenenden, manchmal auch die Ferien. Zu dem Anwesen gehörten ein Garten mit alten Apfelbäumen und eine geräumige Scheune, in der es modrig roch. Ihr Halbdunkel und die vielen Kammern und Stallungen faszinierten mich. Der Heuboden wurde mein Versteck. Ich liebte den Geruch und atmete die süße Fäulnis tief ein. Hier war es still, ein Ort der Ruhe, an dem ich mich ungestört meinen Träumen hingeben konnte, wenn mich nicht der flinke Marder oben im Gebälk ablenkte. 

Unser Haus lag erhöht und bot uns eine weite Sicht auf die Elbtalauen und den Strom, der das Land in Ost und West teilte. Schon vom ersten Blick an bezauberte mich das Auenland, dessen Bäume im Frühling und Herbst aus dem Strom ragten. Nur im Sommer, wenn der Fluss weniger Wasser führte, standen sie auf trockenem Untergrund. Neugierig stromerte ich von morgens bis abends umher, genoss vergnügt meine Freiheit und holte mir nasse Füße. Am liebsten saß ich am Elbestrand, den ich aufgrund der vielen Mücken für mich allein hatte, und schaute den beladenen Barkassen nach, die in der Fahrrinne vorüber zogen und tutend zu beiden Ufern grüßten. Am jenseitigen Ufer sah ich hin und wieder einen Wagen vorfahren. Uniformierte stiegen aus und ein und schauten mit ihren Ferngläsern herüber. 

Eines Tages, als ich durch die Auen streifte, sah ich einen grün gekleideten Mann eine Leiter erklimmen. Sie führte zu einem Holzhäuschen empor, das auf Pfählen stand. Neugierig geworden pirschte ich mich heran und beobachtete ihn durch die offene Tür. Er wandte mir den Rücken zu und blickte zum Fluss, ein Fernglas in den Händen. Der Raum war karg. Nur ein kleiner Tisch und zwei Stühle standen darin. Als ich mich davonschleichen wollte, fragte eine tiefe Stimme hinter mir: „Na, min Deern, willst mich besuchen?“ Ich schaute erschrocken in ein freundliches Gesicht mit buschigen Brauen und weißem Bart. So hatte ich mir stets einen Großvater vorgestellt, den ich schmerzlich vermisste. An diesem Tag begann meine Freundschaft mit dem Zöllner Walter Ruppin. Seine warmherzige Art bezauberte mein Kinderherz. Er freute sich spürbar, wenn ich bei ihm auftauchte, und nannte mich seine seute Deern. In Kürze hatten wir unser Ritual. Traf ich ein, holte er die Keksdose hervor und goss mir aus seiner Thermoskanne ein Tässchen Tee ein. Dann setzen wir uns gegenüber und begannen zu schnacken, wie er es nannte.

Anfangs klönten wir über dies und das. Dann wurden unsere Gespräche persönlicher. Dass meine Familie aus dem Orient kam, hatte sich im Dorf herumgesprochen. Ruppin wollte viel über Persien wissen und fragte mich eines Tages: „Seute Deern, welches Land ist dir eigentlich lieber? Deutschland oder Persien?“

„Aber ich liebe doch beide gleich“, antwortete ich erstaunt.

Er lächelte: „Du hast die Wahl, meine Kleine. Du bist ein glücklicher Mensch.“

„Wie meinst du das, Onkel Ruppin?“

„Schau mal aus dem Fenster und sage mir, was du siehst.“

Erstaunt beugte ich mich hinaus. „Ich sehe die Elbe, die Auen, das andere Ufer…“

„Ja, du siehst das andere Ufer. Aber du darfst niemals hinüber. Von drüben darf auch niemand zu uns. Überall dort drüben stehen Männer, die das Ufer bewachen, um das zu verhindern.“

Ich hatte zwar vom Mauerbau gehört und auch von der Grenze, die sich durch Deutschland zog, wenn meine Eltern darüber sprachen. Doch in meiner kindlichen Unbekümmertheit machte ich mir darüber nicht viele Gedanken.

„Was ist, wenn es doch mal jemand versucht?“, fragte ich.

„Dann wird er aufgehalten, schlimmstenfalls erschossen.“

„Erschossen?“ Der Schreck fuhr mir durch die Glieder. „Aber man kann doch nicht einfach auf Menschen schießen, die woanders hinwollen!“

Er streichelte mir übers Haar. „Ach Kindchen, das nennt man Republikflucht und ist dort drüben ein schweres Verbrechen.“

„Aber da leben doch auch Deutsche! Das verstehe ich nicht.“

Und nun bekam ich meine erste Lektion in Sachen Freiheit und Diktatur. Mir schwirrte der Kopf. Doch bevor ich mich verabschiedete, musste ich noch eine Frage loswerden: „Sag mal, Onkel Ruppin, du trägst auch eine Waffe und musst hier doch aufpassen. Schießt du auch auf Menschen?“

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Barbara Naziri
Vor unserer Tür
Hrsg. SternenBlick
Verl. BoD 2017, 260 S.
ISBN 978-3-7448-9423-4

 

 

 

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