Nick

NICK © Barbara Naziri

Als ich an diesem Morgen die Schule betrat, war ich ein bisschen aufgeregt. Heute war mein erster Schreibworkshop mit Kindern und ich war gespannt, was mich erwarten würde. Mein Schreibkurs lief unter dem Titel „Woher ich komme“ – Heimat und Herkunft in Kunst und Wort.

Erwachsenen das Schreiben nahe zu bringen, ist für mich ein Selbstgänger, denn ich habe es verschiedentlich schon mit viel Freude gemacht. Doch könnte ich Kindern die Freude vermitteln, zumal ich nicht wusste, ob die Kinder sich freiwillig bei mir angemeldet hatten oder es als Aufgabenstellung erfüllen sollten? Insgesamt 16 Kinder waren auf meiner Liste, vorwiegend aus den höheren Klassen 9 und 10. Mir zur Seite hatte die Schule einen Lehrer gestellt, damit der Workshop – wie es hieß – ungestört bleiben sollte. Tim gefiel mir sofort, ein junger ambitionierter Lehrer, der die kleine Gruppe gut im Griff hatte. 16 Schüler, dachte ich, das sprengt schon fast den Rahmen für dieses 6-stündige Lernprogramm.

Es kamen dann 11 Kinder, alle aus den oberen Klassen bis auf einen 5-Klässler. Sein Name war Nick. Ich betrachtete den hübschen Jungen. Er wirkte etwas schüchtern, als er sich auf den leeren Stuhl neben mich setzte. Nick war mir besonders ans Herz gelegt worden. Seine Lehrerin meinte, er bräuchte kräftige Unterstützung, denn er sei wegen mangelnder Deutschkenntnisse ein Förderkind. Auch verwunderte es allgemein, dass er sich für meinen Schreibkunst-Kurs angemeldet hatte. Nick erinnerte mich irgendwie an meinen Enkel Louan.

Ich begann den Workshop mit meiner Geschichte “Der Drachentöter“, um den Einstieg für die Kinder zu erleichtern. Nach einer kurzen Pause erklärte ich den Schülern – erstaunlicherweise waren es bis auf ein Mädchen nur Jungen – wie man eine Geschichte aufbaut und welche Merkmale dabei wichtig sind. Wer ein Gedicht schreiben wollte, erhielt auch einige Anreize von mir. Es wurde etwas unruhig, als die Kinder mit dem Schreiben begannen und ich überlegte, wie sie dabei etwas aufs Papier bringen sollten. Nick fragte mich, ob er schreiben könne, was er wolle. „Das ist der Sinn“, erwiderte ich. „Schreibe einfach, was Dir Dein Herz eingibt.“ Ich sah, wie er die Stirn runzelte und nachdachte. „Wenn ich Dir helfen kann, sag es einfach“, schlug ich vor. Doch er schüttelte nur den Kopf. Nach und nach trat Ruhe ein und nach einiger Zeit waren die ersten Geschichten fertig. Ich blickte zu Nick. Er schrieb flüssig und die Seite war bereits voll. Nun drehte er sie um, um fortzufahren.

Als alle Kinder ihre Geschichte geschrieben hatten, bat ich, sie vorzutragen. Doch keiner wollte so recht. Die Begründung überraschte mich: Das Geschriebene sei alles privat. Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Lewin, ein pfiffiger Junge meldete sich und trug seine Geschichte vor. Und so folgten ihm doch ein paar andere Kinder, es ihm gleich zu tun. Außer der Geschichte von Lewin, die in seiner alten Heimat Albanien spielte, waren die Geschichten der anderen mit Gewalt gespickt. Ich fand das erschreckend, zeigte es doch, wie Kinder die Gesellschaft betrachten. Nun meldete sich Nick. Ermunternd blickte ich ihn an und er begann zu lesen. Der Titel seiner Geschichte lautete “Der Schauspieler“. Jeder, der diesen Titel hört, denkt vielleicht, es handele sich um irgendeinen Star, dem der Junge nun eine Geschichte gewidmet hatte. Doch nein. Sie begann wie ein Märchen. Hier ist die Kurzfassung:

„Ein böser König herrschte über das Land und quälte sein Volk. Er bezeichnete die Menschen als Tiere, verachtete sie und tötete viele. An seiner Seite war ein Ritter, der sich aber freundlich gab. Der König starb und der Ritter sollte weiter herrschen, wurde aber verwundet und lag bald im Sterben. Sein letzter Wunsch war, weiterleben zu dürfen. Das hörte ein Zauberer und weil er glaubte, einem guten Menschen zu helfen, holte er ihn ins Leben zurück. Nun zeigte der Ritter sein wahres Gesicht. Erst tötete er den Zauberer und dann alle, die sich gegen ihn richteten. Er hatte den guten Menschen nur geschauspielert. Der Zauberer aber war nicht wirklich tot und es gelang ihm mit Hilfe anderer den Ritter zu besiegen und den Bruder des Königs ausfindig zu machen. Der war ein guter Mensch. Nun herrschte das Gute im Lande und das zeigt doch, dass man das Böse besiegen kann, wenn man will. …

Ich war sehr beeindruckt von Nicks Geschichte. Für einen Elfjährigen wunderbar und besser als die Geschichten der Großen. Nie werde ich das Lächeln vergessen, das sein Gesicht aufleuchten ließ, als ich ihn vor allen lobte. Gut, seine Grammatik war nicht immer richtig und da gab es auch Rechtschreibfehler. Doch darum ging es ja nicht, sondern um den Inhalt und diesen auch zu präsentieren. Und das hatte er mit Bravour geleistet.

In der Pause fragte er mich, ob er seine Geschichte mit nach Hause nehmen dürfe, um sie seinen Eltern zu zeigen. „Aber Nick, das ist doch Deine Geschichte“, sagte ich lächelnd. „Aber was hältst Du davon, wenn Du sie nachher auf der Bühne noch einmal vor allen Schülern liest? Das würde mich sehr glücklich machen!“ Er sah mich aus großen Augen an. „Ehrlich?“ „Ja, natürlich, Deine Geschichte ist wunderbar!“ Ja, er wollte und ich freute mich wie ein Kind.

Der Rest des Workshops mit einigen neuen Schreibideen verlief harmonisch und gut. Die Rollenspiele liefen super und zum Thema: „Was könnte mit mir in 15 Jahren sein“ war Nick wieder mit Eifer dabei und diesmal durfte er seine Geschichte zuerst vorlesen. Er hatte reale Träume von einer Familie, einem Häuschen und dem Wunsch, mal als Mittelstürmer bewundert zu werden. Nick war wie ausgewechselt. Es war, als würde er über sich selbst hinauswachsen. „Sag, hast Du noch andere besondere Wünsche?“, fragte ich ihn in der Pause. „Ja, ich würde auch gern Schriftsteller werden“, flüsterte er. „Ich denke, das schaffst Du“, erwiderte ich. „Behalte Dein Ziel im Auge und verbessere Dein Deutsch in den Förderkursen. Deine Geschichten sind schön.“ Strahlend sah er mich an.

Später stand Nick vor Hunderten von Schülern auf der Bühne. Die Lehrer, die ihn kannten, waren überrascht. Das hatten sie nicht erwartet. Ich setzte mich auf den Bühnenrand, um ihm zu zeigen, ich glaube an Dich. Während er seine Geschichte vorlas, war es ganz still im Raum. Als er geendet hatte, machte er eine kleine Verbeugung und erntete tosenden Beifall. Ich war so stolz auf ihn und nicht nur ich. Seine junge hübsche Lehrerin hatte Tränen in den Augen. Als Nick die Bühne hinabstieg, umringten ihn sofort seine Mitschüler und beglückwünschten ihn. Einen hörte ich ganz stolz sagen: Nick wohnt in der Parallelstraße, wo ich wohne!

Ich glaube, heute hat sich etwas in seinem Leben entscheidend geändert – und auch in meinem. Ich bin dankbar und glücklich und jetzt noch, wo ich am Computer sitze, sehe ich immer noch seine strahlenden Augen vor mir.

 

Workshop Stadtteilschule Harburg am 12.11.2019
am Tag der Künste – Eine wahre Geschichte

 

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