Das Amulett der Tiere


Leseprobe:

Das Amulett Tiere
© Barbara Naziri

Wir Menschen haben Festtage, die wir fröhlich oder feierlich begehen. Nicht so die Tiere. Für sie ist jeder Tag gleich: fressen, ruhen oder gefressen werden. Manche Tiere müssen sogar für uns arbeiten, andere werden verfolgt und gejagt. Nie zuvor kam einem Menschen der Gedanke, das Tier durch einen Feiertag zu würdigen.
Das verdross die Tiere und so hielten sie Rat. Sie beschlossen, den lieben Gott zu bitten, auch ihnen einen besonderen Tag zu schenken, an dem Friede zwischen allen Tieren herrschen würde und an dem keines dem anderen ein Leid antun dürfte. Dieser Tag sollte festlich und in fröhlicher Runde begangen werden. Nach ihrem Beschluss entsandten sie die Ente Schnatter an die Himmelspforte, die redegewandt und klug war, um dort ihre Bitte vorzutragen. Gesagt – getan. Schnatter trug artig das Anliegen vor, und Gott schenkte den Tieren ihren besonderen Tag. Daraufhin besiegelten sie das freudige Ereignis damit, indem sie ein gemeinsames Amulett herstellten. Jedes von ihnen gab eine Eigenschaft und einen Teil von sich selbst hinzu. Dieses Amulett sollte ihnen Kraft geben und sie an ihrem Festtag auch voreinander schützen.
Als erstes gab das Schwein eine Borste und seine Klugheit. Das Wiesel folgte auf dem Fuß und gab ein Schnurrhaar und seine Flinkheit, das Schaf etwas Wolle und seine Gutmütigkeit, der Bär gab seine Kraft und eine Kralle, der Fuchs die List und ein Schwanzhaar, die Eule ihre Weisheit und eine Feder, das Bienchen seinen Fleiß und einen Tropfen Honig – und so setzte sich die Reihenfolge fort bis zum letzten Tier. Das Amulett wurde in Ehren gehalten und jedes Mal am Tag der Tiere hervorgeholt. Dort lag es in ihrer Mitte und Dank seiner Kraft herrschte Harmonie unter ihnen.
Wieder einmal rückte der große Tag heran. Von einem vergissmeinnichtblauen Himmel lockte Mutter Sonne selbst die Trägsten aus ihrem Bau hervor. Nur hin und wieder ließ sich ein Wolkenschaf gemütlich vom Sommerwind treiben. Die Vögel übten bereits ihre Lieder für das große Feiertagskonzert. Auf der grünen Waldwiese tuschelten die Gänseblümchen und reckten dem milden Sonnenlicht vergnügt ihre Köpfchen entgegen. Nach und nach fanden sich die Tiere ein, um wie jedes Jahr das Harmoniefest zu feiern.
Nur Schnatter, die sonst so fröhliche und buntgefiederte Ente, deren Schnabel nie stillstand, saß schweigend im Schatten einer alten Eiche. Tatz, der Bär, gesellte sich zu ihr. Tatz war der Älteste unter den Tieren des Waldes und hatte viele Sommer und Winter kommen und gehen sehen. Hier war er der Letzte seiner Art, denn seine Verwandten hatten sich in die Berge des Ostens zurückgezogen. Tatz weigerte sich, seinen heimatlichen Wald zu verlassen. Hier war ihm alles lieb und vertraut. Jeder Baum, jeder Strauch. Er wusste, wo die schmackhaftesten Beeren wuchsen und mit viel Glück erwischte er ab und zu auch mal eine Wabe Honig von den Bienen, ohne sich dabei eine dicke Nase zu holen.
Nun beugte er sich fragend zu Schnatter hinab, wobei er sich mit der Pranke über die schon ergraute Nase fuhr. „Heute ist so ein schöner Spätsommertag“, brummte er. „Selbst die Mücken stechen nicht. Nur Du schaust drein, als wenn es gewittert. Was bedrückt Dich, liebe Schnatter?“
Noch bevor Schnatter den Schnabel aufmachte, näherte sich Schleicher, dem ebenfalls die Einsilbigkeit der Ente aufgefallen war. Geschmeidig ließ er sich neben ihr nieder, während er sie belustigt musterte. Schleicher war ein eleganter Rotfuchs mit einem atemberaubenden Schwanz und der Schwarm aller Fuchsdamen. Im alltäglichen Leben war er allerdings der Feind der Ente, galt er doch als listiger Jäger und berüchtigter Hühnerdieb. In der Tat wäre Schnatter ein Leckerbissen für ihn gewesen, darum war sie stets vor ihm auf der Hut. Seltsamerweise hielt Schleicher eine geheime Macht zurück, sich gerade an ihr zu vergreifen. Heute waren diese Gedanken verbannt, denn sie standen alle unter dem Schutz des Amuletts.
„Was gibt es, meine Freunde? Warum sitzt ihr hier abseits und starrt so trübselig vor euch hin?“ fragte Schleicher mit seidenweicher Stimme. Da brach es aus Schnatter heraus. Aufgeregt wackelte sie hin und her, flatterte mit den Flügeln und rief mit überschlagender Stimme: „Liebe Freunde, wir sind hier alle vergnügt beieinander. Aber habt ihr schon einmal daran gedacht, dass unser Tag namenlos ist?“
"Namenlos?“, empörten sich einige und nun entstand Unruhe. Stimmen erhoben sich, etwas lauter als gewöhnlich, wie „Recht hat sie!“ „Wieso hat vorher niemand daran gedacht?“ „Natürlich braucht dieser besondere Tag auch einen Namen!“
Waldohr, die Eule, blickte nachdenklich drein. „Schuhu, schuhu“, übertönte sie die aufgeregten Tiere. Sofort senkten sie ihre Stimmen und betrachteten sie mit Ehrfurcht.
„Liebe Freunde, überlegt es euch gut. Wenn man etwas benennt, dann ist es für immer! Ein Name ist ein Geschenk. Es sollte von uns allen an alle sein“, sagte sie weise und schüttelte ihr weiches Gefieder, das wie reine Seide schimmerte.
Waldohr kam selten an den Rand des Auenwaldes. Sie war ein Geschöpf der Nacht und lebte mit ihren Schwestern und Brüdern tief im Wald, dort, wo kaum ein Mensch den Fuß hinsetzt und das Tageslicht nur mühsam durch das Geäst der Bäume dringt. Hier führen die verwunschenen Wege ins Märchenreich und nur Waldohr kannte die alten Pfade dorthin und den Zauber, der sich dort verbarg.
Sonnentau, die Bienenkönigin, schwirrte heran, aufmerksam umgeben von ihren Wächtern, die sie mit ihren Leibern schützten, um ihr kostbares Leben zu verteidigen. Seit jeher lebte sie mit ihrem Volk in der hohlen alten Eiche, unter der sich Schnatter, Tatz und Schleicher niedergelassen hatten.
„Schnatter“, summte sie, „gräme dich nicht. Ich verspreche dir, wir werden eine Lösung finden, die alle befriedigt.“ Und schon schwirrte sie zu den anderen Tieren, um sich mit ihnen zu beraten. Doch so lange sie sich auch berieten, eine Einigung wollte nicht aufkommen. Mittlerweile wurde
das Wortgefecht heftiger und nur das Amulett verhinderte, dass sie einander ins Fell oder in die Federn gerieten.
 Da richtete sich das Wiesel Flinkfuß auf und rief erschrocken: „Mir sträuben sich die Nackenhaare bei diesem Menschentheater. Benehmt euch endlich wie die Tiere! Wenn wir schon wegen des Namens so aneinander geraten, wie sollen wir dann künftig gemeinsam diesen Tag feiern? Denkt daran, nur das Amulett schützt uns noch voreinander...

 

Wie es weitergeht, erfahren Sie hier:


Delara - Hüterin der Märchen
Barbara Naziri
Ill.: Schirin Khorram
München: ‎ Bookspot Verlag; 1. Edition (4. November 2022)
Taschenbuch: 368 S.
ISBN-10 ‏ : ‎ 3956691849
ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3956691843
€ 15,95


 

 

 

 

                  

 

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