Die Waffe des Schwarzen Todes - Teil 4

Teil 4
© Barbara Naziri

 

Dschanibeg wurde benachrichtigt und eilte daselbst herbei. Nachdem er sich einen Überblick verschafft hatte, erteilte er knapp seine Befehle: „Haltet Abstand von den Menschen! Plündert die Karawane, nehmt Pferde und Kamele mit! Die Reisenden überlasst ihrem Schicksal!“

Doch er hatte die gefährliche Seuche unterschätzt. Mit dem Raubgut hatte er sich wahrlich die Pest ins eigene Lager geholt. Schon bald brach sie mit aller Macht aus. Wurde ein Mann verseucht, übertrug dieser die Krankheit alsbald auf zehn weitere. So waren es nicht die Pfeile des Krieges, die die Männer dahinrafften, sondern ein viel schlimmerer Feind, dem sie nichts entgegensetzen konnten. Außerhalb des Lagers türmten sich die Leichenberge, und wenn der Wind ungünstig stand, drang der Verwesungsgestank meilenweit, sogar bis ins Innere der Stadt. Der Tatarenfürst zürnte und fluchte. Sollte er ein zweites Mal mit seiner Belagerung scheitern? Nein, das durfte er nicht dulden. Düster brütete er in seinem Zelt und sann lange vor sich hin, bis sich seine Züge plötzlich erhellten. Ein grausames Lächeln spielte um seine Lippen. Er erhob sich und erteilte den Befehl: „Bringt die Bliden und stellt sie vor die Mauern der Stadt!“

Seinem Befehl wurde augenblicklich Folge geleistet und ein emsiges Treiben begann. Die mächtigen Wurfmaschinen, welche die Pferde heranzogen, wirkten, als streckten sie ihre Arme trotzig in den Himmel. Nun wurden sie in Schussposition gebracht, indem jeweils zehn kräftige Kämpfer die Rute mittels einer Winde Meter um Meter herunterzogen. Etwa eine Stunde dauerte die schweißtreibende Arbeit, dann standen sie in Wurfstellung. Die Männer keuchten erschöpft und warteten auf weitere Befehle des Blidenmeistes, der alles überwachte. Doch dieser hängte selbst die eigentliche Schleuder, ein langes starkes Tau mit einem Sack in der Mitte, an den massiven Haken. Hier sollte das Geschoss hinein, nach dem er nun verlangte. Als einige Kämpfer eine schwere Steinkugel heranwuchteten, gebot Dschanibeg ihnen mit donnernder Stimme Einhalt.

„Keine Kugeln! Nehmt die Toten und katapultiert sie über die Mauer!“, befahl er mit feurigem Blick.

Statt Steinkugeln begannen die Tataren nun die bereits stinkenden Kadaver einzusammeln und neben den Wurfmaschinen zu stapeln. Jeweils eine Leiche wurde in die Gleitrinne des Schleudersacks unterhalb des Wurfarms gelegt. Der Mechanismus wurde gelöst und unter dem Gejohle der Tataren wurden die Leichen auf ihre letzte Reise katapultiert, bevor sie auf das Pflaster der Stadt klatschten.

Die Feder fährt kratzend über das Pergament. „Niemand“, so schreibt Leonardo, „der es nicht mit eigenen Augen wahrnahm, kann das Grauen der Bewohner Caffas beschreiben, als dieser Leichenregen über sie niederging und ihnen Tod und Verderben brachte.“ Seine Hand zittert, als die Erinnerung ihn einholt. „Ich kam gerade vom Basar, als neben mir ein Leichnam aufschlug und zerplatzte. Die Gedärme drangen heraus wie dunkle Seile und mich überkam ein unwiderstehlicher Brechreiz. Schon kam der nächste Tote durch die Lüfte geflogen und verfing sich an einem Holzgestänge, das durch die Wucht des Aufschlags zusammenbrach und eine Frau, die dort vorbei ging, unter sich begrub. Ein alter Mann, der eine Handkarre zog, wurde von einem Leichnam erschlagen. Ohne Unterlass flogen indes die Toten wie Geschosse vom Himmel. Aus unzähligen Kehlen erklang ein Schreien angesichts dieses Leichenregens. Ein Tosen und Lärmen brach los. Manche Bürger glaubten gar, der letzte Tag sei angebrochen und der Allmächtige halte Gericht über die Menschheit, denn die Mongolen brüllten vor den Toren, dass es sich anhörte, als habe die Hölle ihre Pforten geöffnet. Einige Bürger rannten ziellos mit wirrem Blick durch die Straßen und verkündeten kreischend ’Das jüngste Gericht ist über uns gekommen’, andere schlugen sich auf die Brust und weinten ’mea culpa’. Die Priester läuteten die Kirchenglocken und beteten den Rosenkranz. Muslime knieten nieder und flehten, nach Osten gewandt, Allah an. Die Juden legten ihre Tefillin an und verneigten sich vor Jahwe, dessen Namen sie nicht aussprachen. Kinder weinten jämmerlich und wurden nicht getröstet, weil ihre Eltern vor Schauder wie versteinert waren. Auf dem Boden und den Hausdächern häufte sich mittlerweile immer mehr totes Fleisch an und verströmte einen üblen Gestank.“

Leonardo lehnte fassungslos an einer Hauswand, während er Zeuge dieses grausigen Schauspiels wurde. Sein Gesicht hatte jegliche Farbe verloren. Die Glieder gehorchten ihm nicht mehr. Er glaubte, jeden Augenblick würde sich ein Abgrund vor ihm auftun und ihn für immer verschlingen. Die klagende Stimme einer Frau drang an sein Ohr und brachte ihn zur Besinnung. Allmächtiger! Nalme, die Kinder. So schnell ihn seine Füße zu tragen vermochten, eilte er seinem Haus entgegen, das sich im Herzen der Stadt befand. Hier war der Leichenregen weniger üppig ausgefallen. Die Gassen wirkten ausgestorben. An seinem Hoftor lagen ein Torso und ein Schuh, in dem noch ein Fuß stak. Schaudernd stieg er darüber hinweg und als er das Haus betrat, fand er seine Familie in einem Winkel der Halle kauernd. Nalmes Augen wirkten tiefschwarz, denn die Angst hatte ihre Pupillen unnatürlich geweitet. Ihr Atem ging flach und sie hielt die Arme schützend über ihre Kinder, die sich verängstigt wie kleine Vögel an sie drängen.


„Leonardo! Dem Himmel sei Dank!“, stöhnte sie erleichtert auf und stürzte sich, gefolgt von der Kinderschar, in seine Arme. Eine Weile hielten sie sich wortlos umfangen.


„Was geht da draußen vor, Leonardo? Woher kommen die fliegenden Toten?“, fragte sie bebend, während sie sich auf die Unterlippe biss und ein kleiner Blutstropfen hervorquoll.

Leonardo beschrieb ihr in hastigen Worten, was er selbst erlebt hatte. „Der Khan will die Stadt erobern, und nichts ist ihm heilig. Wir sind in großer Gefahr“, schloss er. Nalme blickte ihn bestürzt an.

„Dein Traum“, flüsterte sie bestürzt. „Oh, Leonardo, ich fürchte mich so sehr.“

„Ja, der unselige Traum war ein Zeichen. Gott schütze uns vor dem, was uns bevorsteht!“ Sein Blick verfinsterte sich.

„Was sollen wir jetzt tun?“

„Wir dürfen keine Zeit versäumen. Unser Domizil müssen wir aufgeben und Caffa mit dem nächsten Schiff entfliehen. Komm, lass uns den Hausstand ordnen und alles zusammentragen, was wertvoll und leicht zu befördern ist.“

Die ganze Nacht sichteten sie ihren Besitz, während die Kinder eng aneinander geschmiegt in einem Winkel schliefen. Im Morgengrauen verluden sie ihr Hab und Gut auf einen Pferdewagen, setzten die Kinder obenauf und kutschierten zum Hafen, um sich einzuschiffen.

In der Luft lag der süßlich scharfe Geruch von verwesendem Fleisch. Um den Ekel zu vermindern, banden sie sich Tücher vor das Gesicht, die sie mit Kräuteressenzen getränkt hatten. Die Fahrt durch Caffa gestaltete sich gespenstisch und ihnen bot sich ein grausiger Anblick. Leichen lagen verstreut umher und wirkten wie zerbrochene Puppen, an denen die Ratten in Scharen nagten. Menschen, in lange Umhänge gehüllt, die Gesichter verborgen, drückten sich an den Häuserwänden. Einige hatten Karren herbeigeschafft, auf die sie die Leichen luden, um sie hernach dem Meer zu übergeben. Die Sonne war verschwunden und am Himmel türmten sich dunkle Regenwolken. Ab und zu scheuten die Pferde, wenn Leichenteile vor ihren Hufen lagen, und mussten mühsam in Zaum gehalten werden. Bald hatten sie den Hafen erreicht. Von der See her wehte eine frische Brise und verdünnte den entsetzlichen Gestank unter der Pestglocke, die über der Stadt hing. Doch Leonardos Hoffnung wandelte sich in Entsetzen, als sie dort eintrafen und kein Schiff am Pier lag. Ein einsamer Seemann hockte an einem Pfeiler und nähte sein Netz.

„Guter Mann, sagt mir, wo sind die Schiffe geblieben?“, fragte Leonardo erregt.

„Wie Ihr seht, mein Herr, sind sie auf hoher See. Gestern lagen hier drei Handelsschiffe, die bereits Ladung aufgenommen hatten und heute Morgen auslaufen wollten. Doch in der Nacht kamen Menschen, die der Stadt entflohen. Hals über Kopf stürmten sie die Schiffe, nur mit dem Nötigsten versehen. Als die Mannschaft von dem Angriff erfuhr, der Caffa widerfahren ist, stach sie sofort in See.“

„Großer Gott!“, schrie Leonardo auf, „was sollen wir denn tun?“

Der Seemann zuckte die Achseln. „Wir erwarten nächste Woche ein Schiff aus Konstantinopel. So lange müsst ihr euch gedulden.“

Niedergeschlagen machten sie sich auf den Rückweg. Der Himmel öffnete seine Schleusen und als sie ihr Domizil erreichten, waren sie bis auf die Haut durchnässt. Erschöpft sank Leonardo auf die Knie und betete zu seinem Schöpfer, die Seinen zu verschonen.

 

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