Das Lied

Das Lied
© Barbara Naziri


Kaum ein Laut drang von der Straße in den stillen Innenhof. Im Garten zirpte ab und zu eine Zikade. Bijan saß unter dem alten Feigenbaum und stimmte seine Kamancheh, eine persische Kniegeige. Er genoss die stillen Nachmittagsstunden, wenn halb Teheran schlief. Vergangene Nacht hatte er ein Gedicht geschrieben, das er nun vertonen wollte. Leise summte er vor sich hin. Die Musik erfüllte ihn mit Hingabe. Wenn er sang, vergaß er die Welt um sich herum und verschmolz mit seinem Instrument zu einem Wesen. Das spürte auch sein Publikum, das selbstvergessen seinen Liedern lauschte. So war er im Laufe der Zeit zu einem beliebten Sänger geworden, dessen klangvolle Stimme in ganz Teheran und weit darüber hinaus bekannt war.

Während er sich mit halbgeschlossenen Lidern auf die Töne konzentrierte, sah er einen Augenblick lang den kleinen Jungen vor sich, der er einst gewesen war. Ein wehmütiges Lächeln umspielte seine Lippen. Schon als Knirps hatte er hier gesessen und selbst erdachte Melodien geträllert, bis ihm sein Ziehvater mit einem Schmunzeln im Gesicht die erste Kniegeige schenkte. Seitdem war sie aus seinem Leben nicht wegzudenken.

„Bijan! Bijan!“ Donjas verstörte Stimme riss ihn jäh aus seinen Gedanken. Erschrocken fuhr er herum, wobei ihm beinahe sein kostbares Instrument entglitt. Für eine Sekunde umschloss seine Hand den Klangkörper fester. Dann legte er ihn behutsam beiseite. Im gleichen Moment kam Donja völlig aufgelöst auf ihn zugestolpert. Sie musste wie eine Besessene gerannt sein. Ihr Atem ging stoßweise und sie verhielt keuchend vor ihm. Obwohl sie vom Laufen erhitzt schien, zeigte ihr Gesicht keine Farbe. In ihren Augen stand blankes Entsetzen. „Oh, nein“, dachte er, während eine böse Ahnung sein Innerstes beschlich, „lass es nicht geschehen sein.“

„Sie haben Vater festgenommen!“ Donja’s Stimme brach,
Tränen strömten über ihre Wangen. Plötzlich knickten ihre Beine weg, als gäbe der Boden unter ihr nach. Er konnte sie gerade noch rechtzeitig auffangen. Er hob sie hoch und trug sie mit klopfendem Herzen ins Haus. „Wie leicht sie ist“, dachte er erstaunt. „Wie eine Feder.“ Vorsichtig ließ er sie auf den Diwan gleiten. Dann eilte er in die Küche, tauchte ein Handtuch in kaltes Wasser und legte es ihr auf die Stirn. Zart klopfte er mit den Fingern gegen ihre Schläfen. Langsam öffneten sich ihre dunklen Augen mit den langen gebogenen Wimpern. „Oh, Vater!“, schluchzte sie. „Diese schreckliche SAVAK … diese Verbrecher! Sie werden ihm etwas antun. Ich spüre es, nun muss er für seinen Mut mit dem Leben bezahlen.“
Bijan presste die Lippen zusammen. Wie sollte er widersprechen? Er fühlte die gleiche Angst..
...


Die vollständige Geschichte gibt es in "antastbar und neuerdings auch im Kindle-Book Kaspar Hauser

     

Inhalt des Kindle-Books:
Barbara Naziri: Das Lied
Heike Schwarze: Missis Sippi's Blues
Karin Reddemann: Seelenfrieden
Ralf Schwob: Nick
Willi Brenner: Der Tod, der Selbstmord und das Leben danach
Christian Heynk: Kaspar Hauser 2025
     

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