Die Waffe des Schwarzen Todes - Teil 5

5. und letzter Teil
© Barbara Naziri

 

Leonardo blickt irritiert auf den stumpfen Kiel. Er greift zum Federmesser, um ihn zu spitzen, und schreibt fort: „Das Rad des Schicksals dreht sich unablässig und lässt sich nicht aufhalten. Wer glaubt, der schwarze Tod kündige sich ihm tosend an, der irrt sehr, denn er hält sich bedeckt. So schlich er sich ganz leise heran und feierte wild seinen Triumph.
Es regnete in Strömen auf Caffa, als beweine der Himmel die schreckliche Katastrophe, welche die Menschen hier heimsuchte. Da die Bewohner nicht alle Toten fortschaffen konnten, mischten sich die Leichensäfte mit dem Regenwasser und flossen in die Zisternen. Auch schwemmte ein starker Regenfluss die zerstückelten Leichenteile hinein und bald darauf war das Wasser vergiftet. Schon nach zwei Tagen erkrankten die ersten Menschen an der furchtbaren Seuche. Es waren vor allem die Kinder, die sich die Pest mit ihren dürren Armen griff. Ein Jammern und Klagen hub an. Kein Medicus vermochte dem Sterben Einhalt gebieten. Die Pest war nicht zu bannen.
Daraufhin beschloss der Stadtrat, die Seuche nach außen zu verheimlichen, wenn nötig zu vertuschen. Auf keinen Fall durften die Handelsbeziehungen in Gefahr geraten. Die Bewohner von Caffa sollten möglichst ruhig gehalten werden. Aber in Caffa war die Ordnung dahin. Es gab Überfälle auf Todgeweihte, die ihrer Kleider und ihres Geschmeides beraubt wurden und mit ansehen mussten, wie Räuber ihre Häuser plünderten. Doch was wollten die Räuber mit dem Diebesgut beginnen? Manch Bäcker war siech und buk kein Brot mehr und der eine oder andere Metzger war der Seuche erlegen. Es begann an Nahrungsmitteln zu mangeln. Auch die Schiffe ließen auf sich warten, die für Nachschub sorgten. In den Kirchen drängten sich die Menschen und die Priester schimpften auf die Juden, denen sie die Schuld an diesem Elend zuwiesen. Die Juden aber versteckten sich hinter den Mauern der Tempel und verfluchten die Christen und ihre Verleumdungen. In den Moscheen hatte man die Türen verriegelt, damit ja kein Christ oder Jude eindrang. Die Gemeinschaft in Caffa war zerstört.“
Plötzlich schimmern Tränen in seinen Augen. Ein Weinkrampf schüttelt ihn. Er legt die Feder zur Seite. Mit beiden Armen umschließt er seinen Körper und wiegt sich auf und ab, als könne er damit das Erlebte besser verwinden, das nach wie vor in ihm schmerzt wie eine offene Wunde.
Leonardos Haus blieb nicht verschont. Schleichend hatte sich die Seuche Einlass verschafft. Bestürzt stand er am Lager seiner beiden Jüngsten, deren kleine Körper ein hohes Fieber schüttelte. Nalme kniete vor ihren Söhnen und rang hilflos die Hände.
„Reinige ihre Körper mit warmen Wasser und lege ihnen frische Kräuterumschläge auf die Brust!“, riet Leonardo. „Ich werde Kräuter verbrennen, damit dieser furchtbare Gestank, der durch jede Ritze drängt, für eine Zeitlang vertrieben wird.“ Überall im Haus entzündete er Räucherpfännchen, wobei er die furchtbare Ahnung bekämpfte, die sein Herz beschlich.
Am nächsten Tag war das Fieber der Kinder weiter gestiegen. Am Hals und in den Leisten hatten sich die gefährlichen Pestbeulen gebildet. Leonardo schickte seine Knechte aus, einen Medicus aufzutreiben. Doch sie kamen unverrichteter Dinge zurück. Der Medicus, den sie endlich nach langer Suche gefunden hatten, verweigerte einen Krankenbesuch aus Sorge um die eigene Gesundheit. Inzwischen glich die halbe Stadt einem Krankenlager, an dessen Seite Gevatter Tod Wache hielt.
Die Seuche befiel Leonardos dritten Sohn. Allerdings zeigte sie sich bei ihm in neuer Form. Er litt vehement an Atemnot, sodass Leonardo ihn in eine sitzende Stellung brachte, damit er genügend Luft bekam. Aber es brachte keine Linderung, sein Zustand verschlechterte sich zusehends. Er röchelte nur noch und die Lippen färbten sich blau. Die Lungenpest hatte ihn ergriffen. Schon ein Tröpfchen hatte genügt, seine Lunge zu befallen. Rasch hatten sich die Bakterien vermehrt und begannen, die Lunge zu zerstören.
Verzweifelt machte sich Leonardo auf, um selbst nach einem Medicus zu forschen. Schon wollte er bedrückt aufgeben, da sah er einen Arzt aus einem Wohnhaus treten. Er hastete auf ihn zu und bat flehentlich um Hilfe. Im Laufschritt eilten sie auf sein Heim zu. Dort setzte der Medicus seine Pestmaske auf. Als er vom Krankenlager trat, wiegte er bedenklich den Kopf. „Eure Kinder hat es bitter getroffen – und nun auch noch die Lungenseuche. Gegen dieses Miasma1 hat ärztliche Fertigkeit keine Macht. Es liegt in Gottes Hand. Ich verordne Euren Kindern hier ein Teriak,2 das heilende Kräuter wie Anis, Fenchel und Kümmel beinhaltet. Zudem sorgt der enthaltene Schlafmohn für etwas Linderung der Beschwerden. Dennoch rate ich Euch, holt einen Priester, der um ihren Beistand fleht.“
Nalme weinte bitterlich: „Oh, Leonardo, wenn die Kinder sterben, mag auch ich nicht mehr leben!“
Leonardo umschlang sie fest. „Wir müssen tapfer sein und dürfen nicht aufhören zu hoffen.“
„Bleibt uns nur die Hoffnung?“
„Sie stirbt zuletzt, Nalme“, flüsterte er leise.
Da begann der Junge zu husten und krümmte sich vor Schmerzen. Aus seinem Munde floss schwarz-blutiger Schleim. Entsetzt blickten sie einander an. Nalme wankte. Dann riss sie sich zusammen, kniete nieder und säuberte ihn schluchzend. Zärtlich umarmte sie ihn, streichelte sein heißes Gesichtchen und fuhr ihm mit der Hand durch das schweißnasse Haar. Doch der Schmerz in Leonardos Haus fand kein Ende. Hatte er gehofft, wenigstens eines seiner Kinder könne der Seuche entkommen, so sah er sich getäuscht. Den kräftigsten seiner Söhne traf es zuletzt. Nun lagen alle vier Kinder siech danieder. Ihre Haut verfärbte sich schlagartig. Es bildeten sich überall dort schwarze Flecken, wo sie abstarb. Einem der Söhne verfaulten die Finger bei lebendigem Leibe. Man konnte fast zusehen, so schnell geschah es. Nach verzweifelter Suche trieb Leonardo einen mitleidigen Priester auf, der bereit war, am Lager seiner Kinder für ihre unschuldigen Seelen zu beten. Zähflüssig verrann eine qualvolle Zeit. Endlich erbarmte sich eine höhere Macht und erlöste sie von ihren Leiden. Leonardos Kinder starben allesamt innerhalb einer Woche.
Darüber verlor Nalme die Beherrschung. Sie warf sich schreiend auf die Erde und zerriss sich ihre Kleidung. Dann streute sie sich Asche auf ihr Haupt und sprach fortan kein Wort mehr. Niemand vermochte, sie ob dieses Verlustes zu trösten. Nun blieb Leonardo nur noch eines, die Kinder in Würde zu bestatten. Doch es fand sich kein Totengräber, denn die Stadt war selbst zum Grabe geworden. Leonardo griff selbst zur Schaufel und hob unter Tränen eine Grube aus. Dann wickelte er die Kinder behutsam in Leinentücher und legte sie hinein. Bevor er ihre Körper mit Erde bedeckte, hob er die Hand zum Himmel und ballte sie zur Faust.
„Weh mir, was muss ich noch erleiden? Welch grausame Qual hat mir das Schicksal auserkoren? Die Kinder sterben vor den Alten. Wo gestern noch ein fröhliches Lachen erklang, bleibt mir nichts mehr als kalte Erde. Wohin mein Auge auch schaut, kein sicherer Ort, kein Hafen tut sich mir auf. Die Hoffnung auf ersehnte Rettung, sie ist verloren. Schau nieder, Herr, auf die zahllosen Leichenzüge. Sie tragen auch die Zuversicht ins kühle Grab. Weh mir, da ich die Kirchen meide, die keinen Trost zu spenden vermögen und nur von Totenklagen hallen. Nimm diese Engel hin, die mein Glück und meine Freude waren, die ohne Glockengeläut den letzten Weg beschreiten!“
Nalme hockte regungslos am Grabrand. Stumpf starrte sie vor sich hin. Ihre Seelenpein war einer unendlichen Leere gewichen. Nachdem Leonardo die toten Kinder mit Erde bedeckt hatte, hob er Nalme in seine Arme und trug sie ins Haus. Als er sie auf ihr Lager legte, krümmte sie sich zusammen wie ein Kind im Mutterleib.

Das Sterben in Caffa ging weiter. Inzwischen befiel auch die Küste ein widerlicher Gestank. Die Bürger erkannten, dass sie die vielen Toten nicht einfach der See überlassen konnten, denn sie wurden häufig zurück an Land gespült, entwickelten Gase und zerplatzen. Unter Mühen hoben sie tiefe Pestlöcher aus, doch auch sie konnten die vielen Toten, die auf den Karren angerollt wurden, nicht aufnehmen. Überall stapelten sich die Leichen und wen die Seuche bisher verschont hatte, der geriet nun in ihre Klauen. So wütete sie vor und hinter den Stadttoren und hielt reiche Ernte. Ein letztes Handelsschiff traf im Hafen ein, löschte die Ladung und stach kurz darauf in See. Wer die Kraft noch aufbrachte, verließ mit ihm die Stadt.
Leonardo konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Nalme lag im Fieber. Abgezehrt, dunkle Ränder unter den Augen, war sie nur noch ein Schatten jener schönen Frau, die einst sein Herz erobert hatte. Ihr Körper glühte im Fieber. Unruhig warf sie sich auf dem zerwühlten Lager hin und her. Er wachte an ihrem Bett, streichelte sie beruhigend und kühlte unermüdlich ihre Stirn mit feuchten Leinentüchern. Mit einem Mal öffnete sie die Augen. Ihr Blick wirkte entrückt. „Leonardo, ich sterbe“, flüsterte sie, „mir ist so kalt.“
„Nalme“, rief er bestürzt, „verlasse mich nicht auch noch!“ Dann eilte er, um eine weitere Decke zu holen.
„Ich bin so müde“, murmelte sie. „die Kinder rufen mich.“
„Schau mich an, mein Liebchen“, bat Leonardo. „Auch ich brauche dich.“
„Es ist so dunkel, Liebster. Hole ein Licht, damit ich dich sehen kann.“
Leonardo stand auf, um ein Talglicht zu holen. Als er an ihr Lager zurückkehrte, hatte sie ihr Leben ausgehaucht. Fassungslos starrte er auf die entseelten Augen. Er hörte einen entsetzlichen Schrei, bis er gewahr wurde, dass er selbst es war, der wie ein waidwundes Tier schrie. Er schrie so lange, bis ihm die Sinne schwanden. Dann sank er neben ihr Lager. Somit endete sein Lebensglück und das vieler anderer Menschen durch die Pest.

„Die schöne Perle Caffa wurde Beute des schwarzen Todes. Wer ihm entrann, machte sich davon. Ich floh mit jenem Priester, der am Lager meiner Kinder gebetet hatte. Ein Ende hat der Schrecken nicht gefunden. Denn wie ein böser Geist ist die Seuche mit den Schiffen über die Meere gezogen, durch die Lüfte geflogen und hat sich hier in Genua und anderen Hafenstädten eingenistet. Selten wurden Menschen so würdelos dahingerafft, Städte und Dörfer entvölkert. Was im Morgenland begann, hat hier im Abendland seinen grausigen Abschluss gefunden“, endet Leonardo seine Aufzeichnungen. Sacht legt er die Feder nieder. Draußen graut ein neuer Tag.

1Miasma = Infektion, Befleckung
2Teriak = (a. d. Persisch.) ein Opiat, galt früher als Heilmittel

 

 

 

 

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